Man soll Gott auch für kleine Gefälligkeiten danken
Die
Tür
mit der milchigen Doppelverglasung und dem Holzrahmen fällt leise
hinter mir ins Schloss, obwohl ich sie mit Schwung zugeworfen habe. In
Erwartung eines Knalls bin ich schon zusammengezuckt, aber
die Scharniere federn gut und haben meinen Überschwung gebremst. Ich
war schon immer eher das Kind in der Schule, das in den Pausen auf den
zerkratzen Holztischen fangen gespielt hat. Leise in
der Ecke sitzen und Schulbrote essen, über die nächste Arbeit
nachdenken – nicht ich, definitiv nicht.
Wichtiger waren schließlich die schuppigen, grün-braunen Krokodile. Die hockten unter den Bänken und Stühlen und schnappten mit weit aufgerissenen Mäulern nach jedem Erstklässler, der das Gleichgewicht nicht halten konnte und vom Tisch rutschte. Manchmal waren es auch Haie. Und sogar einmal Piranhas. Allerdings nannten wir sie Pinatas, weil Jaslene, meine Banknachbarin mit den Großeltern in Kolumbien, etwas verwechselt hatte.
Wichtiger waren schließlich die schuppigen, grün-braunen Krokodile. Die hockten unter den Bänken und Stühlen und schnappten mit weit aufgerissenen Mäulern nach jedem Erstklässler, der das Gleichgewicht nicht halten konnte und vom Tisch rutschte. Manchmal waren es auch Haie. Und sogar einmal Piranhas. Allerdings nannten wir sie Pinatas, weil Jaslene, meine Banknachbarin mit den Großeltern in Kolumbien, etwas verwechselt hatte.
Jetzt
bin
ich froh, dass meinem natürlichen Charakter gute deutsche Wertarbeit
entgegengewirkt hat. Es ist schätzungsweise kurz nach Mitternacht und
in den Nachbarhäusern brennt überall kein Licht mehr.
Dorf halt. Da geht man nach „Wer wird Millionär?“ ins Bett und steht
mit den Hähnen auf. Zwar nur, weil die Biester vom Bauernhof bei mir
gegenüber irgendwie gedopt sind und mich manchmal um 5
Uhr wecken, aber das Prinzip ist klar, oder? Und ich wohne in einem
richtigen Dorf. AUF dem Dorf, besser gesagt. So heißt das hier. Messer
sind „Kneipchen“ und eine Wolldecke schimpft sich
„Kolter“. Wenn wir „es reicht“ meinen, schreien wir „es schickt“.
Wir haben ein Gemeindehaus für Vereinsversammlungen; wenn der Nachbar
stirbt, weiß es das ganze Dorf in circa 2 Stunden. Und alle
Mädchen über 14 waren angeblich schon mindestens einmal schwanger,
ich inklusive. Jetzt noch ein paar Fachwerkhäuser, ein malerischer Bach
und einige kleine Läden rund um die katholische
Ortskirche verteilt – voilà! Mein Dorf.
Wenn
man
mich jetzt allerdings mit vorher verbundenen Augen hier abgesetzt
hätte, würde ich Schwierigkeiten haben, mich zu orientieren. Denn als
ich die roten Steinstufen vor der Haustür meiner besten
Freundin Antonia herunter gehe, stehe ich vor einer dichten
Nebelsuppe, die sich über mein Dorf gelegt hat. Die Straßenlampen sind
von einer weißen Korona umgeben und spenden nur genug Licht, um
sich an ihnen zu orientieren. Die Nebelbank hat Autos und Häuser
gleichermaßen verschluckt. Ich kann nicht bis zur anderen Straßenseite
schauen. Feuchte, winzige Tröpfchen legen sich auf mein
Haar und Gesicht. Mich fröstelt es und ich bleibe kurz stehen. In
welche Jackentasche habe ich meine Wollmütze, hässlich aber hilfreich,
gesteckt? Meine behandschuhten Hände können den Stoff der
Mütze nicht erfühlen, deswegen krame ich alles hervor, was sich in
den Taschen befindet. Meine Beute: Ein altes Busticket von vor drei
Monaten, ein Kaugummi, verpackt und relativ frisch,
Lippenbalsam, Taschentücher, Haustürschlüssel und - die gesuchte
Kopfbedeckung! Ich stopfe den ungewollten Kram wieder zurück, ziehe mir
die Mütze über das nass werdende Haar und mache mich auf
den Weg nach Hause.
Es
müssen mindestens 3 Grad Minus sein, obwohl es bald Mitte März ist.
Mein Haus liegt zwar luftlinientechnisch nur 500 Meter von Antonias
entfernt, aber
wenn alles so einfach wäre, könnte mein Hintern Gitarre spielen. Man
hätte ja gerade Straßen bauen können, von A nach B. Aber wie unlustig
wäre das denn gewesen für die pfiffigen Herren, die sich
in den Kopf gesetzt hatten, ein neues Dorf zu gründen?
So
brauche ich mindestens 10 Minuten von hier in mein warmes Bett, was
zwar nicht viel, in der Eiseskälte aber sehr unangenehm ist. Und dann
muss ich auch
noch auf den Weg achten, denn obwohl ich die Strecke in und
auswendig kenne (ich gehe sie mindestens einmal in der Woche, würde ich
schätzen) ist der Nebel so dicht, dass man nur ungefähr einen
Meter weit sehen kann und wenn ein Auto kommt, während ich die
Straße überquere... Nicht, dass um diese Uhrzeit hier irgendwas fährt,
aber ich bin lieber vorsichtig.
Mein Atem bildet kleine Wölkchen vor meiner Nase, die prompt anfängt zu laufen, kaum habe ich damit angefangen. Also atme ich durch den Mund,
weil ich zu faul bin, ein Taschentuch zu suchen und dann mit der ganzen Kram-Aktion von vorne anfangen müsste.
Als
ich am Zebrastreifen die Hauptstraße überquere, schaue ich kurz hoch.
Ich weiß, dass es Vollmond ist. Heute Abend, oder eher gestern Abend,
wenn es
schon nach 12 ist, gab es noch keinen Nebel. Aber jetzt ist vom
Himmel nichts zu sehen. Er scheint sogar die Geräusche zu verschlucken.
Ich kann nur meinen eigenen Atem hören. Auch meine Sneakers
tragen mich lautlos über den Asphalt. Im Dorf ist es totenstill.
Über kurz oder lang werden die Kirchglocken läuten, aber noch wirkt
alles wie in dem alten Horrorfilm von John Carpenter, „The
Fog“.
Immer wenn wir
Nebel haben, überfallen uns diese dämlichen Leichen. Langsam geht mir das auf die Nerven“, denke
ich,
grinse ein bisschen. Aber das kommt der Wahrheit irgendwie viel zu
nahe, denn bei diesem Wetter und zu dieser Stunde kann man an Sachen
glauben, die einen nur wohlig gruseln, wenn man sich zu
Hause vor dem Fernseher befindet.
Jetzt
habe ich mir natürlich was eingeredet. Schnell drehe ich mich um, nur
zur Sicherheit. Aber da ist natürlich niemand. Nur diese fast
unnatürliche
Stille. Komisch – wenn es nicht neblig wäre, würde es genauso still
sein, aber das ist irgendwie was anderes. Die Jugend von heute, zu der
ich mich zähle, ist doch zu sehr auf Horrorstreifen
getrimmt.
Obwohl
ich mir sage wie blöd ich bin gehe ich schneller. Nur noch die
Hauptstraße fast bis zum Ende, links an einem unbebauten Grundstück
entlang und dann
einmal über die Straße, dann bin ich daheim. Ich ertappe mich dabei,
wie ich versuche, leiser zu atmen. Und mein Herz schlägt schneller. Es
klopft zwar nicht unkontrolliert wie nach einem
schnellen Lauf, aber das Tempo hat sich merklich beschleunigt. Ich
bekomme Angst, obwohl ich es mir nicht eingestehen will. Davon sage ich
meinen Eltern oder meinem jüngeren Bruder bestimmt
nichts. Nach 18 Jahren im selben Dorf plötzlich Panik, weil es
nebelt? Die lachen sich tot.
Sind
das
Geräusche hinter mir? Keine Schritte, aber eine Art Rascheln? Ich
drehe mich noch mal um. Da ist nichts. Naja, vielleicht doch, aber wenn,
kann ich nichts erkennen. Verdammter Nebel!
Links
von mir taucht die Hecke auf, die das brachliegende Grundstück in der
Nähe meines Elternhauses markiert – noch 20 Meter, dann bin ich zu
Hause!
Diese miteinander verwachsenen Bäumchen begrenzen nur eine Seite des
Platzes. Am Ende der Hecke sind die letzten drei Seiten offen
zugänglich. Normalerweise nehme ich die Abkürzung querfeldein,
aber der Boden ist matschig. Ich will meine Turnschuhe nicht morgen
putzen müssen.
Jetzt bereue ich meinen Entschluss. Die spitzen Wipfel der Heckenbäumchen stechen in den Nebel. Fast wie Teufelshörner, denke ich. Die
Schwerkraft lässt sie sich in meine Richtung neigen.
Ihre
Nadeln rascheln im Wind. Nur, dass keiner weht. Der Nebel wirkt
undurchdringlich, aber eine einzelne Brise hätte ihn trotzdem geteilt
und die Häuser
rings um mich herum für Sekundenbruchteile freigelegt. Trotzdem
fährt irgendetwas durch die Äste, während ich daran vorbei gehe. Kann
das der Luftzug sein, den ich erzeuge? Nein, die Geräusche
kommen von der anderen Seite der Hecke. Die in wenigen Metern zu
Ende sein wird. Und das, was in ihr raschelt, scheint parallel mit mir
zu gehen.
Ich
bleibe stehen. Und dann beginnen die feinen Äste mit den tausenden von
Nadeln direkt neben mir zu beben. Ich höre knackende Geräusche. Die
dunkle
Masse der Hecke wird zu zwei verschiedenen Seiten gedrängt und etwas
bricht mit Gewalt hindurch. Aber ich warte nicht ab, um zu sehen, was
es ist. Ich laufe los, habe aber nicht an den Bordstein
gedacht. Meine Füße, die gleich hohen Boden erwarten, treten ins
Leere und ich falle beinahe. Im letzten Moment kann ich mich
ausbalancieren, aber da ist es schon zu spät. Ich habe wertvolle
Sekunden verbraucht und etwas Warmes schlägt gegen meinen Rücken.
Ich
warte auf Schmerzen, werde aber nur an meiner Kapuze nach hinten
gerissen. Daraufhin drehe ich mich um. Kampflos gebe ich nicht auf.
Meine Hand
schießt reflexartig vor. Sie trifft auf Haut, menschliche Haut, und
legt sich um einen Hals. Meine Finger drücken zu, aber dann merke ich,
dass mein Angreifer mir nur bis an an die Schulter
reicht. Es ist mein Bruder Hendrik, das Feixen noch im Gesicht, in
den aufgerissenen Augen allerdings flackert Verwirrung auf. Und noch
etwas anderes – ist es ein Funken Angst? Ich lasse ihn
nicht los, entspanne aber meinen Griff.
„Wo
hast du denn die Muckis her?“ fragt mein Bruder. Bewunderung verdrängt
den noch nie bei ihm gesehenen, seltsamen Blick. Sein lässiges Grinsen
verliert
eine Wächsernheit, die noch vor ein paar Sekunden seinen Mund zu
einer Grimasse hatte erstarren lassen.
Ich
schaue ihn nur an und sage nichts. Das stachelt ihn an. Sein Streich
fällt ihm wieder an und er grinst so breit, dass seine Mundwinkeln fast
die Ohren
berühren. Daraufhin sieht er mir sehr ähnlich.
„Ha,
geil, dass ich auch grad nach Hause wollte! Hast Schiß gehabt, oder?
Hast gedacht, es wär einer, der dir an die Wäsche will, oder? Wer will
das denn
schon?“
Er plappert und plappert. Mir fällt auf, dass seine Stimme dumpf klingt. Auch hier zeigt der Nebel also seine Wirkung.
In
der nächsten Sekunde habe ich in einer beiläufigen Geste mein
Handgelenk herum gerissen und sein Genick gebrochen. Sein Kopf fällt auf
seine Brust, so
dass ich seine glasigen Augen nicht mehr sehen muss. Er war zwar
mein Bruder, aber andererseits hatte ich noch nie so viel Angst wie in
den vergangenen Minuten. Fast habe ich geglaubt, da sei
noch jemand, der so ist wie ich. Aber ich bin immer noch die Einzige
in diesem Dorf.
Die Kirchenglocken beginnen plötzlich zu schlagen. Dreimal als Vorwarnung, dann ein lautes GONG. Es ist jetzt ein Uhr.
Ich
werfe den erkaltenden Leichnam zurück ins Gebüsch. Meine Eltern werden
traurig sein, schätze ich, aber ich helfe ihnen drüber weg. Sie hatten
mich
sowieso immer viel lieber als Hendrik. Erstgeborene und so.
Schade,
dass ich bei Antonia und ihren Eltern schon so viel gegessen habe...
Besser gesagt, Antonia und ihre Eltern gegessen habe. Mein Magen ist
voll, da
passt unmöglich noch was rein. Andererseits wird die Polizei jetzt
bestimmt Zusammenhänge suchen – ein Junge ermordet und eine andere
Familie verschwunden... Vielleicht können sie daraus was
Schönes konstruieren!
Ich
hatte
natürlich nicht die Absicht, mir Antonia und ihre Familie
einzuverleiben, schließlich bin ich kein schlechter Mensch. Sie war
meine beste Freundin! Aber der Nebel war für früher angesagt und
Antonia hatte ihre Jalousien nicht herunter gelassen. Der Vollmond
schien direkt in ihr Wohnzimmer und gegen die Verwandlung bin ich
machtlos. Nur noch blutige Kleidungsfetzen musste ich
entsorgen. Wenigstens hatte ich alles ratzeputz aufgegessen, wie
meine Mutter immer gesagt hat, als ich noch in den Kindergarten gegangen
bin. Man soll Gott auch für kleine Gefälligkeiten
danken!
Super napisane.
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